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|Description_de=ZT: Indianer. Walter ist 8 Jahre alt. | |Description_de=ZT: Indianer. Walter ist 8 Jahre alt. | ||
Jungen spielen Fangen, klettern auf Baum, Vater und Mutter umarmen den achtjährigen Sohn, Pfarrersohn in Lederhose, tobt ausgelassen mit seinen Freunden, Buben balancieren, raufen und kämpfen mit Holzstöcken. | Jungen spielen Fangen, klettern auf Baum, Vater und Mutter umarmen den achtjährigen Sohn, Pfarrersohn in Lederhose, tobt ausgelassen mit seinen Freunden, Buben balancieren, raufen und kämpfen mit Holzstöcken. | ||
+ | |Contexte_et_analyse_de=In dem zweiminütigen Schwarzweißfilm, im 16mm-Format gedreht, dokumentieren Katharina und Emil Lind 1934 das wilde Spiel ihres achtjährigen Sohns Walter mit seinen Freunden. Der Film besteht aus neun Sequenzen, die verschiedene Aktivitäten zeigen, die zum Teil sicher für die Aufnahmen inszeniert und abgesprochen wurden. Der Film beginnt mit dem handgeschriebenen Titel „Indianer, Walter ist 8 Jahre alt“. Die erste Szene zeigt vier Kinder, die draußen im Garten spielen. Sie haben sich aus alten Möbeln und Backsteinen so etwas wie eine Burg gebaut. Ein Kind hat einen Matrosenanzug an, Walter trägt eine Lederhose mit Hosenträgern. Als nächstes laufen fünf Kinder hintereinander auf die Kamera zu. Im Hintergrund beobachtet eine Frau die Szene aus einem Fenster. Dann klettert Walter mit einem Freund auf einen Baum direkt am Haus. | ||
+ | Die fünf Kinder laufen im Gänsemarsch hintereinander her und werden von der Seite aufgenommen. Walter ist anschließend in Großaufnahme zu sehen und spricht mit der Person, die die Kamera bedient. Er wird dann erst vom Vater, dann von der Mutter in die Arme genommen. Einer der Jungen versucht auf einem Geländer zu balancieren. Zwei der Jungen kämpfen mit einem Stock, während die anderen ihre Fäuste im Nahkampf gebrauchen. Dabei gehen einige von ihnen zu Boden. | ||
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+ | Dieser Privatfilm der Familie Lind kann als historische Quelle für die Sozial- und die Mikrogeschichte betrachtet werden. Er wurde im Rahmen eines Familienbesuchs bei den Großeltern väterlicherseits in Schwegenheim gedreht. Der achtjährige Walter zeigt durch seine Spiele Themen der Bildung, der sozialen, der mentalen und der familiären Situation 1934. Die Deutschen erlebten große politische Veränderungen durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr zuvor, von denen diese tobenden Kinder zunächst wenig betroffen zu sein scheinen. | ||
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+ | Im Film werden keine hochpolitischen Ereignisse behandelt, sondern das Alltagsleben und die sozialen Umstände einer Pfarrersfamilie in den 1930er Jahren. Dass eine solche Kinderspielszene gedreht werden konnte, lässt einen hohen sozialen Status erkennen. Die Familie musste eine Kamera haben, die damals ebenso wie das Filmmaterial noch sehr teuer war. Der Vater Emil Lind hatte seit Oktober 1925 ein Pfarramt in Speyer, was für einen evangelischen Pastor nicht unbedeutend ist, da Speyer als eine der Geburtsstätten des Protestantismus gilt. Lind, während des Ersten Weltkriegs Feldprediger, war der Hauptorganisator der 400-Jahrfeier der Protestation zu Speyer, welche 1529 die Anerkennung der protestantischen Minderheit bedeutete. Er war ehemaliger Student und Freund von Albert Schweitzer, mit dem ihm ab 1929 eine intensive Brieffreundschaft verband. Er schrieb eine Biografie über seinen Lehrer und Freund. Lind gab die Monatszeitschrift „Der Speyerer Protestant“ heraus und hatte dadurch einen regionalen Einfluss. Der Lebensweg des Vaters entfaltete sich auf der lokalen Ebene des Rheinlands, wobei er in Schwegenheim geboren ist, in Strasbourg Theologie studiert und in Speyer gearbeitet hat. Emil Lind entspricht dem typischen Privatfilmer, gehörte aber auch zu den profiliertesten Pfälzer Pfarrern im 20. Jahrhundert. Er verkörperte die liberale Strömung des Protestantismus. | ||
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+ | Die Filmbilder offenbaren den Alltag der Jungen mit ihrer Bekleidung und bestimmten Verhaltensweisen. Ein Junge trägt einen Matrosenanzug, der in den 1920er Jahren üblich war. Der Anzug wurde im 19. Jahrhundert entwickelt und auch als Schuluniform verwendet. Zwischen 1880 und 1930 war er in ganz Europa verbreitet und Hersteller wie Bleyle machten ihn zu ihrem Vorzeigeprodukt. Die Nationalsozialisten lehnten ihn als bürgerlich-dekadent ab. Im Gegensatz zum Matrosenanzug blieb die Lederhose für Jungen noch lange populär, weil sie dank des soliden Materials widerstandsfähig beim Spielen war. Mit dem Aufkommen vom Alpentourismus nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte und verbreitete sich die kurze Lederhose auch außerhalb der bayerischen und alpinen Region. Im Fall von Walter Lind können wir davon ausgehen, dass es ein Geschenk seines Großvaters aus der Schweizer Alpenregion war, was in einer anderen Aufnahme der Familie Lind erwähnt wird (siehe: Familienfilm Teil 1). | ||
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+ | Was die Verhaltensweisen betrifft, beobachtet man eine Freiheit der Spiele und der Beziehung der Kinder zu den Eltern. Im Rahmen dieser Familienkonstellation wirkt der kleine Walter frei und gefühlsmäßig nah bei seinen Eltern. Eine solche Nähe ist später durch die Zwangsmitgliedschaft in der Hitlerjugend und anderen NS-Jugendorganisationen nicht mehr möglich. Denn dabei geht es um Drill, Gehorsam und eine paramilitärische Ausbildung. Diese Szene des Alltags eines deutschen Jungen stellt die letzten Momente der Freiheit einer jugendlichen Generation dar, die von den Nationalsozialisten noch nicht vereinnahmt wurde. Ein anderer Film zeigt Walter in einer HJ-Uniform (siehe: Familienfilm 3c), der locker auf die Kamera zuläuft und Blümchen im Vorgarten pflückt. Der Film „Tobende Kinder“ zeigt die Erziehungsmodelle dieser Zeit für Jungen, die ermutigt werden, ihre Maskulinität frei auszudrücken, durch Schreien und virile oder kämpferische Spiele. | ||
+ | Eva Beutel | ||
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Version du 31 janvier 2021 à 17:02
Description
ZT: Indianer. Walter ist 8 Jahre alt.
Jungen spielen Fangen, klettern auf Baum, Vater und Mutter umarmen den achtjährigen Sohn, Pfarrersohn in Lederhose, tobt ausgelassen mit seinen Freunden, Buben balancieren, raufen und kämpfen mit Holzstöcken.
Contexte et analyse
In dem zweiminütigen Schwarzweißfilm, im 16mm-Format gedreht, dokumentieren Katharina und Emil Lind 1934 das wilde Spiel ihres achtjährigen Sohns Walter mit seinen Freunden. Der Film besteht aus neun Sequenzen, die verschiedene Aktivitäten zeigen, die zum Teil sicher für die Aufnahmen inszeniert und abgesprochen wurden. Der Film beginnt mit dem handgeschriebenen Titel „Indianer, Walter ist 8 Jahre alt“. Die erste Szene zeigt vier Kinder, die draußen im Garten spielen. Sie haben sich aus alten Möbeln und Backsteinen so etwas wie eine Burg gebaut. Ein Kind hat einen Matrosenanzug an, Walter trägt eine Lederhose mit Hosenträgern. Als nächstes laufen fünf Kinder hintereinander auf die Kamera zu. Im Hintergrund beobachtet eine Frau die Szene aus einem Fenster. Dann klettert Walter mit einem Freund auf einen Baum direkt am Haus.
Die fünf Kinder laufen im Gänsemarsch hintereinander her und werden von der Seite aufgenommen. Walter ist anschließend in Großaufnahme zu sehen und spricht mit der Person, die die Kamera bedient. Er wird dann erst vom Vater, dann von der Mutter in die Arme genommen. Einer der Jungen versucht auf einem Geländer zu balancieren. Zwei der Jungen kämpfen mit einem Stock, während die anderen ihre Fäuste im Nahkampf gebrauchen. Dabei gehen einige von ihnen zu Boden.
Dieser Privatfilm der Familie Lind kann als historische Quelle für die Sozial- und die Mikrogeschichte betrachtet werden. Er wurde im Rahmen eines Familienbesuchs bei den Großeltern väterlicherseits in Schwegenheim gedreht. Der achtjährige Walter zeigt durch seine Spiele Themen der Bildung, der sozialen, der mentalen und der familiären Situation 1934. Die Deutschen erlebten große politische Veränderungen durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr zuvor, von denen diese tobenden Kinder zunächst wenig betroffen zu sein scheinen.
Im Film werden keine hochpolitischen Ereignisse behandelt, sondern das Alltagsleben und die sozialen Umstände einer Pfarrersfamilie in den 1930er Jahren. Dass eine solche Kinderspielszene gedreht werden konnte, lässt einen hohen sozialen Status erkennen. Die Familie musste eine Kamera haben, die damals ebenso wie das Filmmaterial noch sehr teuer war. Der Vater Emil Lind hatte seit Oktober 1925 ein Pfarramt in Speyer, was für einen evangelischen Pastor nicht unbedeutend ist, da Speyer als eine der Geburtsstätten des Protestantismus gilt. Lind, während des Ersten Weltkriegs Feldprediger, war der Hauptorganisator der 400-Jahrfeier der Protestation zu Speyer, welche 1529 die Anerkennung der protestantischen Minderheit bedeutete. Er war ehemaliger Student und Freund von Albert Schweitzer, mit dem ihm ab 1929 eine intensive Brieffreundschaft verband. Er schrieb eine Biografie über seinen Lehrer und Freund. Lind gab die Monatszeitschrift „Der Speyerer Protestant“ heraus und hatte dadurch einen regionalen Einfluss. Der Lebensweg des Vaters entfaltete sich auf der lokalen Ebene des Rheinlands, wobei er in Schwegenheim geboren ist, in Strasbourg Theologie studiert und in Speyer gearbeitet hat. Emil Lind entspricht dem typischen Privatfilmer, gehörte aber auch zu den profiliertesten Pfälzer Pfarrern im 20. Jahrhundert. Er verkörperte die liberale Strömung des Protestantismus.
Die Filmbilder offenbaren den Alltag der Jungen mit ihrer Bekleidung und bestimmten Verhaltensweisen. Ein Junge trägt einen Matrosenanzug, der in den 1920er Jahren üblich war. Der Anzug wurde im 19. Jahrhundert entwickelt und auch als Schuluniform verwendet. Zwischen 1880 und 1930 war er in ganz Europa verbreitet und Hersteller wie Bleyle machten ihn zu ihrem Vorzeigeprodukt. Die Nationalsozialisten lehnten ihn als bürgerlich-dekadent ab. Im Gegensatz zum Matrosenanzug blieb die Lederhose für Jungen noch lange populär, weil sie dank des soliden Materials widerstandsfähig beim Spielen war. Mit dem Aufkommen vom Alpentourismus nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte und verbreitete sich die kurze Lederhose auch außerhalb der bayerischen und alpinen Region. Im Fall von Walter Lind können wir davon ausgehen, dass es ein Geschenk seines Großvaters aus der Schweizer Alpenregion war, was in einer anderen Aufnahme der Familie Lind erwähnt wird (siehe: Familienfilm Teil 1).
Was die Verhaltensweisen betrifft, beobachtet man eine Freiheit der Spiele und der Beziehung der Kinder zu den Eltern. Im Rahmen dieser Familienkonstellation wirkt der kleine Walter frei und gefühlsmäßig nah bei seinen Eltern. Eine solche Nähe ist später durch die Zwangsmitgliedschaft in der Hitlerjugend und anderen NS-Jugendorganisationen nicht mehr möglich. Denn dabei geht es um Drill, Gehorsam und eine paramilitärische Ausbildung. Diese Szene des Alltags eines deutschen Jungen stellt die letzten Momente der Freiheit einer jugendlichen Generation dar, die von den Nationalsozialisten noch nicht vereinnahmt wurde. Ein anderer Film zeigt Walter in einer HJ-Uniform (siehe: Familienfilm 3c), der locker auf die Kamera zuläuft und Blümchen im Vorgarten pflückt. Der Film „Tobende Kinder“ zeigt die Erziehungsmodelle dieser Zeit für Jungen, die ermutigt werden, ihre Maskulinität frei auszudrücken, durch Schreien und virile oder kämpferische Spiele.
Eva Beutel
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